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Course Content (Syllabus)
War im Anfang das Wort? Oder der Big Bang? Oder die berühmte weiße Seite, die page blanche? Oder Basic? Oder Homer? Oder die DNA? Oder die Kapitelüberschrift? Was wäre überhaupt ein Anfang, was sind die Anfänge (kann es sie im Plural geben)? Was bedeutet es, vom »Neuen« zu sprechen? Lässt ein Anfang die Zeit stocken, oder macht er sie erst möglich; ruft er das Nie-Dagewesene in die Existenz; markiert er eine Zäsur zwischen Vorher und Nachher? Auf welche Weise steht er im Bunde mit Innovation, Originalität, Revolution, Erfindung, Veränderung? Und weshalb ist der Anfang zugleich unerlässlich für alle Konvention und Tradition, für Identitätspolitik und Nationalismus? Gibt es den Anfang etwa immer nur im Nachhinein und Rückblick (denn mit Albrecht Koschorke gibt es »keine Augenzeugen von Anfängen, keine Zeitgenossenschaft im strikten Sinn«)?
Mit Fragen wie diesen will sich unser Seminar beschäftigen. In breiter Perspektive – dabei aber weder historisch linear noch mit dem Anspruch auf Vollständigkeit – werden wir versuchen, uns den literarischen, kulturellen, politischen, epistemologischen Konzepten vom Anfang zu nähern. In gemeinsamer kritischer Lektüre und Diskussion geht es etwa um Ursprungsmythen und ihren kulturellen Zweck, um die Genetik und ihre Diskursmacht von der Biologie und Eugenik bis hin zur Übersetzungstheorie, um die Migration als Beginn der ganzen Menschheitsgeschichte und, heute, als Faktor einer völlig neuen Weltordnung, um Gründungserzählungen wie diejenige von der Entführung Europas, die einmal politische und ein andermal religiöse Ordnungen fundieren und ebenso oft deren Gewaltakte zu pro-grammieren scheinen. Wir werden einen Blick werfen auf den Anfang der Literatur wie auf die Anfänge literarischer Texte und auf »Paratexte«, die einen Anfang sogar vor dem Anfang bezeichnen. Und schließlich nötigt uns die Gegenwart, nach patient zero zu fahnden, dem Ersterkrankten, mit dem angeblich jede Infektionskette ihren Anfang nimmt.
Weitere Bibliographie
- Roland Barthes, Die Vorbereitung des Romans: Vorlesung am Collège de France 1978-1979 und 1979-1980, Frankfurt: Suhrkamp 2008.
- Hans Blumenberg, Quellen, Ströme, Eisberge – Beobachtungen an Metaphern, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2012.
- Tobias Döring, Barbara Vinken, Günter Zöller (Hrsg.): Übertragene Anfänge, München: Wilhelm Fink 2010.
- Boris Groys, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München: Hanser 1992 [Englische Übersetzung: On the New, London/New York: Verso 2014].
- Albrecht Koschorke, »Götterzeichen und Gründungsverbrechen. Die zwei Anfänge des Staates«, in: Neue Rundschau 115 (2004) 1, S. 40-55.
- Albrecht Koschorke, »Zur Logik kultureller Gründungserzählungen«, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, 1 (2007) 2, S. 5-12.
- Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago: University of Chicago Press, 1962.
- Stefan Neuhaus & Petra Kindhäuser (Hrsg.), Anfangen und Aufhören. Kulturwissenschaftliche Zugänge zum Ersten und Letzten, München: Wilhelm Fink 2019.
- Edward W. Said: Beginnings, New York: Basic Books 1975.
- Michael Schläfli, Hubert Thüring, Corinna Jäger-Trees (Hrsg.), Anfangen zu schreiben: Ein kardinales Moment von Textgenese und Schreibprozeß im literarischen Archiv des 20. Jahrhunderts, München: Wilhelm Fink 2009.